Das Lieblingsrennen der Grand-Prix-Teams in den 1930er Jahren ist nicht der Europameisterschaftslauf in Monaco, sondern eine Veranstaltung, die gar nicht zum EM-Zyklus zählt: der Große Preis von Tripolis in Libyen, italienische Provinz seit dem Januar 1934. Gouverneur ist der bärtige Luftmarschall Italo Balbo, dem Rennsport wie auch den anderen guten Dingen des Lebens von Herzen zugetan und überdies ein glänzender Gastgeber.
Die Veranstaltung in Tripolis ist einfach attraktiv für die Teams: Es winken sommerliche Hitze, während Europa noch fröstelt, exotisches Ambiente über Marmor und unter Palmen, rauschende Feste und üppige Preisgelder, zumal Italien seit 1933 mit großer Spielfreude im Rahmen einer Lotterie auf Sieger und Platzierte setzt. Kein Wunder, dass man den Weg dorthin gern antritt.
Insgeheim ärgert die Veranstalter jedoch, dass ein italienischer Rennwagen dieses Rennen zuletzt 1934 gewonnen hat, ein Alfa Romeo. Danach sind die Silberpfeile auf die Spitzenplätze auf dem schnellen, dreizehn Kilometer langen Mellaha-Kurs um den gleichnamigen See vor den Toren von Tripolis abonniert. 1935 siegt Rudolf Caracciola. 1937 und 1938 sitzt Hermann Lang am Volant des Mercedes-Benz Boliden. 1936 gewinnt ein Auto Union Rennwagen.
Da muss Abhilfe geschaffen werden. Bereits 1937 und 1938 sorgt eine eigens eingerichtete 1,5-Liter- Kategorie für italienische Triumphe wenigstens in den unteren Rängen. Vieles deutet darauf hin, dass die von 1941 an geltende Grand-Prix-Formel für Wagen mit dem gleichen Volumen ausgeschrieben wird. In vorauseilendem Gehorsam, aber auch um den Deutschen in Tripolis das Siegen auszutreiben, begrenzt die italienische Motorsport-Behörde den Hubraum für Top-Monoposti ab 1939 im eigenen Land auf 1500 Kubikzentimeter (Voiturette-Formel). Alfa Romeo mit dem Alfetta 158 und Maserati mit dem neuen 4CL sind gut gerüstet.
Konstruktion und Aufbau des Wagens - ein Wettlauf mit der Zeit
Verkündet wird das Reglement im September 1938. Mercedes-Benz Rennleiter Alfred Neubauer erfährt davon am 11. September nach dem Gran Premio d'Italia in Monza. Der 13. Tripoli Grand Prix ist für den 7. Mai 1939 angesetzt. Es bleiben also weniger als acht Monate – ein Wettlauf mit der Zeit beginnt. Er wird in einem überragenden Erfolg enden.
Die einzelnen Stationen: Ein erstes Treffen der Beteiligten wird am 15. September 1938 anberaumt. Den Einwand der Konstrukteure, ein solches Projekt sei in der allzu knappen Zeit nicht machbar, schmettert Max Sailer, Ex-Rennfahrer im Dienste des Hauses und seit 1934 Leiter der Konstruktion und Entwicklung des Fahrzeugprogramms, ab: Es müsse sein. Am 18. November folgt die offizielle Weisung des Managements. Mitte Februar 1939 liegen die wesentlichen Zeichnungen von Motor-Spezialist Albert Heeß und Chassis-Guru Max Wagner vor. Anfang April kommt es in Hockenheim zur ersten Begegnung der Fahrer Rudolf Caracciola und Hermann Lang mit einem der beiden gebauten Wagen, der fast klaglos 500 Kilometer abspult. Zur allgemeinen Verblüffung erscheinen auf der Nennungsliste für den Tripoli Grand Prix, welche die Veranstalter am 11. April herausgeben, zwei Mercedes-Benz W 165 – die ersten 1,5-Liter-Rennwagen der Stuttgarter seit der Targa Florio 1922.
Der immense Zeitdruck löst Sachzwänge aus. Der W 165 muss sich in allen wesentlichen Punkten am aktuellen Grand-Prix-Wagen orientieren, dem W 154, der überdies gleichzeitig fieberhaft weiterentwickelt wird. In der Tat kommt der Tripolis-Monoposto wie sein maßstabsgerecht geschrumpfter großer Bruder daher, 3680 Millimeter lang (W 154: 4250 Millimeter), mit dem verkürzten Radstand von 2450 Millimeter (W 154: 2730 Millimeter). Die Streben seines Ovalrohrrahmens bestehen aus Chrom-Nickel-Molybdänstahl, neben den fünf Quertraversen bildet der hintere Motorträger eine zusätzliche Verstrebung. Der Fahrer sitzt eine Idee rechts von der Mitte, somit auch die Windschutzscheibe und das Paar Rückspiegel. Wie am W 154 ist die Kardanwelle im Winkel angebracht, ohne dass wegen der beengten Raumverhältnisse dadurch Platz für eine zentrale Position hätte geschaffen werden können. Überdies ist der Sitz relativ weit nach vorn verlagert, weil Wagner möglichst viel Treibstoff innerhalb des Radstands unterbringen will. Wieder gesellt sich zum Reservoir im Heck ein Satteltank über den Schenkeln des Piloten. Voll getankt, aber ohne Fahrer, wiegt der W 165 ganze 905 Kilogramm, wovon 53,3 Prozent über der Hinterachse lagern.
Enge Verwandtschaft mit dem Mercedes-Benz W 154
Auch der Motor, 195 Kilogramm leicht, kann seine enge Verwandtschaft zum V12 des W 154 nicht verleugnen. Es ist ein V8 mit 1493 Kubikzentimeter Hubraum im Winkel von 90 Grad mit vier obenliegenden Nockenwellen und 32 Ventilen, deren Antrieb und Anordnung fast identisch sind mit denen des Grand-Prix-Modells. Je Zylinderreihe, die rechte ist um 18 Millimeter nach vorn versetzt, gibt es einen Stahlblock mit aufgeschweißtem Mantel für die Glykol-Umlaufkühlung. Die Köpfe sind mit den Zylindern verschweißt. Versuche mit einem Kreiselkompressor werden abgebrochen, da bei niedriger Drehzahl der Ladedruck rasch abstürzt. Die Gemischbildung besorgen zwei Solex-Saugvergaser, kraftvoll unterstützt von zwei Roots-Gebläsen. Die entwickelten 254 PS (187 kW) bei 8250/min kommen einer Literleistung von 170 PS (125 kW) gleich – ein Spitzenwert. Für ihre Bändigung ist ebenfalls gesorgt. Mächtige Bremstrommeln (Durchmesser 360 Millimeter) füllen fast das gesamte Innere der Speichenräder aus. Selbst die extremen Temperaturen im libyschen Gastland – am Renntag 52 Grad Celsius über der breiten Piste – hat man berücksichtigt, indem man die Kraftstoffleitung über Röhrenkühler führt.
Der Rest ist Renngeschichte vom Feinsten. Die Mercedes-Benz W 165 lassen ihren Gegnern praktisch keine Chancen. Caracciola fährt auf frischen Reifen mit seinem kurz übersetzten Wagen die volle Distanz durch, Hermann Lang legt - wie vorher festgelegt - einen schnellen Boxenstopp ein und gewinnt mit längerer Übersetzung (und dadurch mehr Höchstgeschwindigkeit) das Rennen von Tripolis mit fast einer Runde Vorsprung vor seinem Markenkollegen. Er hätte ihn überrunden können. Doch dann melden sich Skrupel – das könne er diesem Mann nicht antun, denkt er. Die Zeiten waren halt anders...
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Die Erfolgsserie des Mercedes-Benz W 165 hätte durchaus weiter gehen können, wäre da nicht der Zweite Weltkrieg dazwischen gekommen. Nach Kriegsende wäre der W 165 zwar in der Formel 1 startberechtigt gewesen, jedoch verzichtete Mercedes auf einen Einsatz.
Technische Daten des Mercedes-Benz W 165
Motor:
Typ: 8-Zylinder-V-Motor
Hubraum: 1493 ccm
Leistung: 187 kW / 254 PS bei 8250/min
Max. Drehmoment: 245 Nm bei 6500/min
Getriebe: 5-Gang Schaltgetriebe
Fahrleistung:
Vmax: ca. 274 km/h
Abmessungen:
Radstand: 2450 mm
Länge: 3680 mm
Breite: 1600 mm
Höhe: 1050 mm
Gewicht: 905 kg
Baujahr: 1939
Bilder von Mercedes-Benz W 165
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Fotos: © Daimler
Video von Mercedes-Benz W 165